Schwarze Kreise – Black Circles
Konzentrische schwarze Kreise, die auf eine Mitte hinführen: das Ziel für Kugel oder Pfeil. Eine Zielscheibe, die der Übung dient; ruhige Hand, scharfes Auge, klarer Geist, heißes Herz.
Luisa Landsberg zielt auf eine Luftgewehrscheibe und sie trifft – immer. Ihre Waffen sind Feder und Tusche. Mit filigranen Linien und monochromen Flächen schreibt sie den einfachen Scheiben ein neues Leben ein, fragt und erhält Antworten: Kann diese Mitte auch aufbrechen, aufblühen? Sie versetzt die Scheiben in Drehung, manche scheinen zu pulsieren, einige verlieren ihr Zentrum, andere geben klare geometrische Antworten, zeigen räumliche Tiefe, wachsen uns aus dem Blatt entgegen.
Aus der einfachen vorgegeben Form von schwarzen Kreisen um einen hellen Mittelpunkt entstehen kostbare Solitäre, kunstvolle Blätter in einer unvorstellbaren Vielfalt und einer fragilen Schönheit.
Woher kommen diese Formen, wie schreibt die Künstlerin sie ein auf die immergleichen Blätter?
Luisa Landsberg setzt sich aus, sie stellt ihre Antennen auf Empfang; einem Impuls folgen, einen Anfang erlauben. Weitergehen, auch wenn Fragen auftauchen. Innehalten. Atemholen, weitergehen. Ja, es gibt Parallelen zur Meditation, vielleicht zum Gebet. Hingabe ist das, was uns in diesen vielen hundert Blättern begegnet. Die Künstlerin stimmt sich ein, für jedes Blatt neu. Stille wäre hier als Grundlage der Arbeit zu nennen, und aus der Stille senden die Zeichnungen in ihrer steten Abfolge einen starken Ton aus. Wie bei einer gut gestimmten Glocke braucht es nur einen kurzen Impuls und auch wir können den Klang empfangen, er schwingt lange nach aus diesen Blättern.
Doch die Hingabe der Künstlerin verlangt auch von uns, den Betrachtern, eine „Seriosität des Blicks“ – kein rasches Drübergucken, kein schnelles Wiedererkennen der zugrundeliegenden Form bringen uns zu dem, was Linien und Flächen hier evozieren.
Nehmen wir uns Zeit.
Wir entdecken einen Kosmos der Vielfalt – Leben blättert sich hier auf. Zellen, Pflanzen, Kristalle – es pulst, es atmet, es knistert, rauscht und singt aus diesen Zeichnungen.
Und wieder: Hingabe auch in der Betrachtung. Eine Haltung, die Kontemplation einschließt, die zum Anfang der Betrachtung Ruhe einfordert, das sich Einstellen, das Geltenlassen, das Andächtigsein – eine friedvolle Verfassung. Ausgerechnet von einem Blatt, das letztlich für die Schulung des Tötens in Krieg oder Jagd millionenfach hergestellt und weltweit dazu genutzt wurde und wird, geht plötzlich eine Friedenbotschaft aus: Wie wunderbar ist jedes Blatt, wie einzigartig, wie unwiederbringlich (wenn es zerstört werden sollte). Wie absurd erscheint da der eigentliche Zweck dieser Zielscheiben, die Engführung auf Schuss und Ziel.
Und doch gibt es auch einen Aspekt der Gefahr in diesen Blättern; im Schaffensprozess scheint die Künstlerin sich zu verlieren in ihnen. Doch ist dies nicht das Wagnis, das Kunst ausmacht?
John Berger, selbst Maler und einer der hellsichtigsten Essayisten zur zeitgenössischen Kunst, schreibt: „Nahe zu kommen bedeutet, die Regeln, das Aussehen, das Abwägen der Vernunft, die Hierarchien und das eigene Selbst zu vergessen. Es schließt das Risiko ein, aus jedem Zusammenhang zu fallen, bis zum Wahnsinn.“ (aus: Gegen die Abwertung der Welt, 2005)
Nun, Wahnsinn vermutet man nicht hinter diesen Zeichnungen von Luisa Landsberg, wohl aber eine Art von Besessenheit, die über das übliche Maß alltäglicher Aneignungsprozesse hinausgeht – zu schnell rasten wir im oberflächlich Erkannten ein.
Luisa Landsbergs Verfahren gleicht dem einer Wissenschaftlerin, die mit unendlicher Geduld – Antonio Skármeta würde sagen „mit brennender Geduld“, denn auch zu dieser Haltung gehört Liebe – ihr Forschungsobjekt beobachtet, beschreibt, bezeichnet.
Welches sind die Regeln, die Konstanten, die „methods of research“, die in jedem wissenschaftlichen Forschungsbericht offengelegt werden müssen?
Es sind neun konzentrische schwarze Kreise um einen hellen Mittelpunkt, blassbraunes Papier, 12 x 12 cm. Es ist schwarze Tusche, Pinsel und Feder. Dies ist das Schmetterlingsnetz, mit dem die Künstlerin die vielfältigsten Gestalten einfängt. Die Analogie zu Klassifizierungs- und Katalogisierungssystemen vor allem in der Botanik liegt nahe. Ernst Haeckels „Kunstformen der Natur“ fallen uns ein, oder die frühen botanischen Illustrationen des 18. Jahrhunderts, als die Wissenschaft nach standardisierten Beschreibungssystemen verlangte.
Doch die Gestalten auf den Zielscheiben sind keine Abbilder real existierender Objekte, es sind Möglichkeitsformen. Formen, die aus dem Kreis und der strikten Beschränkung auf ihn entstehen können. Sie sind daher eher Ereignisse als Objekte.
Im täglichen Schaffensprozess hebt die Künstlerin diese Schätze, die Beschränkung auf das Format wird ihr dabei zum Gerüst, um sich der Unendlichkeit, die hinter der Kreisform aufscheint, stellen zu können. In diesen Zeichnungen begegnen wir der spirituellen Dimension des Kunstschaffens.
Mit ihren Arbeiten stellt sich Luisa Landsberg in eine künstlerische Tradition, die in subtilen Werken eher den Prozess als das Produkt thematisiert; die aus einer bewussten Beschränkung im Formalen künstlerische Kraft bezieht:
Ein Giorgio Morandi, der Jahr um Jahr die selben Gefäße zeichnet, eine Agnes Martin, die Linie an Linie reiht oder ein Mark Rothko, der seine Farbflächen nicht als Abstraktionen einer realen Welt sah, sondern als eine Aufforderung zum Dialog:
„Und müsste ich mein Vertrauen in irgendetwas setzen, würde ich es in die Psyche des einfühlsamen Betrachters legen, der frei von konventionellen Denkmustern ist. Ich wüsste nichts vom Gebrauch, den er von Bildern für die Bedürfnisse seines eigenen Geistes machen würde. Wenn beides – Bedürfnis und Geist – vorhanden sind, dann besteht Gewähr für wahren Austausch.“ (Mark Rothko, 1954)
Luisa Landsberg öffnet uns ein rundes Fenster, durch das wir einen Blick auf den fortwährenden Schöpfungsakt der Welt werfen dürfen. Ein kleines Guckloch, das da auf diesen sandfarbenen Blättern ganz bescheiden die größten Schätze darbietet: Kreativität, Freiheit, Ein- und Ausatmen, Leben, Frieden.
Ein Impuls geht von diesen Scheiben aus, der paradoxerweise den eigentlichen Zweck der Zielscheibe umkehrt: Nicht ich ziele auf die Scheibe, sondern diese Zeichnungen zielen auf mich. Und sie treffen mich zuverlässig in einer meiner menschlichsten Fähigkeit: dem Staunen. Fortwährend.
Doris Kollmann, Medow, August 2016